Volkstrauertag: Im Gedenken an die Opfer von Krieg, Gewalt und Vertreibung

Predigt von Dekan Jürgen Josef Eckl zum Volkstrauertag

Liebe Schwestern und Brüder!

Der November ist der sogenannte Totenmonat. Beginnend mit dem Allerheiligenfest und dem Allerseelentag gedenken wir unserer Verstorbenen in der Zuversicht, dass sie nun bei Gott sind und seine Herrlichkeit schauen dürfen.

Alles läuft auf ihn zu. Er ist Ursprung und Ziel von allem, was lebt.  

Aber alles Geschaffene trägt auch ein Verfallsdatum: Nichts ist ewig. Nichts auf dieser Erde kann die unendliche Sehnsucht stillen, die Gott uns ins Herz gegeben hat. In allem ist etwas zu wenig. Auch das zeigt die Vorläufigkeit und Unvollendetheit dieser unserer Welt.

Ganz ungeschminkt führt uns das der Volkstrauertag mit seinem jährlichen Gedenken vor Augen. Auch heuer begehen wir ihn angesichts eines brutalen Krieges mitten in Europa.

Wenn wir heute der vielen gefallenen und vermissten Soldaten, der zivilen Opfer und Opfer von Vertreibung und Rassenwahn der beiden Weltkriege gedenken, dann kommen wir nicht umhin, zuerst auch diejenigen in unser Gebet einzuschließen, die heute, in diesen Wochen, in diesen Tagen, jetzt in diesem Moment, die Schrecken des Krieges durchleiden müssen.

Geschichte wiederholt sich; wenngleich wir immer wieder hoffen, dass die Menschen aus ihren Fehlern lernen. Dass man sich darauf und auf die Vernunft des Menschen nicht verlassen kann, zeigen uns die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten und an vielen weiteren Kriegsschauplätzen dieser Welt, die schon längst wieder aus den täglichen Nachrichten verschwunden sind.

Ein bedrohliches Vergessen hält mehr und mehr Einzug; nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt. Die Wunde, die vor allem der Zweite Weltkrieg, aber auch das Schreckenspotential des Kalten Krieges im Bewusstsein aller Nationen gerissen hat, dass der Frieden, der uns von der vernichtenden Katastrophe trennt, manchmal nur am seidenen Faden hängt, das droht allmählich zu verheilen. Die Zeit heilt ja alle Wunden, sagt man. Und das wahrscheinlich unaufhaltsam. Und wie viele haben in den letzten Jahren immer wieder gefordert, die Vergangenheit doch endlich ruhenzulassen und sich viel lieber der friedvollen Zukunft zuzuwenden, da man doch schließlich nur von Freunden und Partnern umgeben wäre.

Aber, liebe Schwestern und Brüder, ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft.

Wir dürfen die Narbe der Wunde, die die Kriege der Vergangenheit gerissen haben, nicht überschminken. Sie muss sichtbar bleiben für die Generationen nach uns. Es darf kein Vergessen geben; keine Rückkehr zu völkischem Nationalismus oder rassistischer Verblendung. Es darf kein Vergessen der vielen Millionen Opfer geben; derer, die zu allererst unter Krieg und Terror leiden. Den die Leidtragenden sind nicht die Putins, die Trumps, die Xis. Zuerst trifft es die Frauen und Kinder, die Alten und natürlich die Soldaten – Ehemänner, Söhne, Familienväter – die ihr Leben für etwas verlieren, für das sie nichts können. So ist das Wort von Papst Franziskus zu verstehen: „Krieg ist immer eine Niederlage. Das Erste, was stirbt, ist die Menschlichkeit.“

Der heutige Tag ist ein Tag des Erinnerns, ein Tag gegen das Vergessen. Ein Tag, an dem wir auf die Narben der Geschichte schauen, um hoffentlich aus ihnen zu lernen.

Ein Lehrwerk in Sachen Frieden und Verantwortung wurde in diesem Jahr 78 Jahre alt: Die Verfassung des Freistaates Bayern. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 geschrieben, um den kommenden Generationen ein Leben in Freiheit und Sicherheit zu ermöglichen. In der Präambel unserer Verfassung lesen wir:

„Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes dauernd zu sichern, gibt sich das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte, nachstehende demokratische Verfassung.“

Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden gehören also zusammen. Das ist eine Lehre aus der Geschichte: Frieden gab es immer dann, wenn Menschen frei waren; Krieg, wenn Despoten und Diktatoren ganze Völker in Geiselhaft nahmen und sie in die Ketten von Ideologien legten.

Gerade wir Christen haben die Pflicht aufzupassen, dass das nicht wieder ge-schieht. Nein, wir haben keinen Einfluss auf internationale Krisen oder Kriege. Aber jeder von uns kann und muss dafür sorgen, dass vor unserer Haustür, in unserem Land, nicht Hass und Spaltung die Oberhand gewinnen, sondern Friede, Verständigung und Vernunft regieren. Das sind wir nicht nur uns und dem Herrgott schuldig, sondern auch denen, die nach uns kommen und denen, die vor uns waren und ihr Leben für Gerechtigkeit und Frieden geopfert haben.

Und: Die Verfassungsväter sahen sich des Trümmerfeldes gegenüber, das eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen hinterlässt.

Liebe Schwestern und Brüder, ist es wirklich nur Zufall, dass ausgerechnet dort schleichend Hass, Spaltung, Gewalt Oberhand gewinnen, wo Gott, der Glaube, die Kirche allmählich aus dem Bewusstsein einer Gesellschaft verschwinden?

Ich glaube nicht. Denn wo Gott nichts gilt, dort gilt bald auch der Mensch nichts mehr. Das Christentum, unser Glaube, ist – ob das manche wahrhaben wollen oder nicht – Basis und Wurzel unseres freiheitlich-demokratischen Denkens. Alle Grundrechte basieren auf dem christlichen Gottes- und Menschenbild.

Wenn wir heute der gefallenen und vermissten Soldaten gedenken, mit ihnen auch der vielen Millionen zivilen Opfer von Kriegen der Vergangenheit und der Gegenwart, dann doch in dem Bemühen unserer und den nächsten Generationen den Frieden zu erhalten – im Innern wie im Äußeren; unserer Verantwortung als Christen gerecht zu sein. Denn Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit, sie fallen leider nicht vom Himmel, sondern müssen mit Gottes Hilfe immer wieder neu errungen und verteidigt werden.

Denn in eine gute Zukunft – und davon bin ich zutiefst überzeugt – gehen wir nur mit Gott, mit Gewissen und mit Achtung vor der Würde eines jeden Menschen.

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